Liebe Leserinnen und Leser
Die fortschreitende Digitalisierung des Verkehrs wird unsere Mobilität in der Zukunft verändern. Darüber hinaus wird sie in vielfältiger Weise Konsequenzen haben, die einer adäquaten Reaktion durch das Recht bedürfen. Das zeigt sich bereits am Beispiel des automatisierten Fahrens: Sollten wir künftig mit einem hochautomatisierten oder gar autonom fahrenden Auto unterwegs sein, das mit anderen Fahrzeugen und einer «smarten Infrastruktur» vernetzt ist, werden wir nicht nur eine Strecke zurücklegen, sondern durch die Fahrt fortwährend Daten generieren. Diese Daten werden Teil eines immensen Datenpools aller zurückgelegten Alltagswege. Unsere Mitwirkung an der Schaffung von Big Data eröffnet Möglichkeiten zur Optimierung von Strassenverkehr, etwa durch Stauvermeidung. Gleichzeitig erschliessen unsere Daten neue Optionen für Wertschöpfungsketten durch Datenauswertung: Von personalisierter Werbung bis hin zur «Kaffeefahrt», welche ein autonom fahrendes Auto selbsttätig mit uns unternehmen könnte, wenn es davon ausgehen darf, dass wir noch Interesse an einem Einkauf oder einem Haarschnitt haben. Ein Datenpool aller Alltagswege könnte überdies wertvoll für eine Überwachung von Individuen sein: Wenn etwa eine Aufsehen erregende Straftat geschieht, liesse sich feststellen, wer sich in der Nähe aufgehalten hat. Oder wenn an bestimmten Orten vermehrt Straftaten aufträten, liessen sich Profile möglicher Straftäter mithilfe von Verkehrsdaten erstellen. Obendrein ermöglichen individualisierte Daten aus einem Fahrzeug, etwa nach einem Autounfall, die Rekonstruktion eines möglichst wahrscheinlichen Unfallhergangs. Diese unterschiedlichen Aspekte einer Digitalisierung des Verkehrs, die für eine Rechtsinhaberschaft oder eine Rechtsdurchsetzung von Bedeutung sind, beleuchten die einzelnen Beiträge in dieser Ausgabe:
Ugo Pagallo zeigt in Three Lessons Learned for Intelligent Transport Systems that Abide by the Law, dass selbstfahrende Autos durch die zugrunde liegende Technologie Rechtsfragen in ganz unterschiedlichen Bereichen aufwerfen: Sicherheit, Verbraucherrecht, Versicherung, Privatsphäre, Datenschutz, Strassenverkehrsrecht, Steuerrecht etc. Der Beitrag analysiert die normativen Herausforderungen und mögliche Regulierungsmodelle – und blickt dabei auf eine mehr als 15 Jahre alte Diskussion zurück.
Christine Möhrke-Sobolewski stellt eine Grundsatzfrage für intelligenten Verkehr und Datenrechte: Wem gehören die Daten von Autos und Strasse? Der Beitrag greift einen wesentlichen Aspekt von Vorträgen einer von der Juristischen Fakultät unter dem Titel «Intelligenter Verkehr – Rechtsfragen im Kontext» durchgeführten Tagung auf: die Frage nach den Datenrechten. Neben einem Überblick über den derzeitigen Diskussionsstand werden Sicherheitsaspekte betreffend intelligenten Individual- und Massenverkehrs und das Zusammenspiel von Daten und Wertschöpfung erörtert sowie Fragen der prozessualen Nutzung von Daten in Zivil- und Strafverfahren behandelt. Sabine Gless beleuchtet eine andere fundamentale Frage, die an der genannten Tagung diskutiert wurde: Intelligenter Verkehr und Big Data – welche Vorteile und welche Nachteile erwarten wir von einer Aufzeichnung und Auswertung unserer Wege?
Jörg Arnold zeigt eine praktische Perspektive auf Daten aus dem Auto – aus Sicht derjenigen, die von aussen auf bestimmte gespeicherte Informationen zugreifen wollen. So kann etwa für Strafverfolgungsbehörden bei einer Unfallanalyse der Zugang zu sogenannten Crashdaten wesentlich für eine möglichst valide Rekonstruktion des Unfallhergangs sein. Wenn jedoch auf solche Daten, die etwa in Airbag-Steuergeräten gespeichert sind, zugegriffen werden soll, prallen Interessen aufeinander: Die forensisch relevanten digitalen Spuren können sowohl für die Unfallbeteiligten als auch für die Fahrzeughersteller äusserst wertvoll sein und nicht aus jeder Sicht erscheint eine Datentransparenz gleich sinnvoll. Der Autor informiert über die derzeitige Praxis und weist auf offene juristische Fragen hin.
Jan Spittka und Marcus Schreibauer erläutern in ihrer Analyse der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm zur Datenverarbeitung im Kraftfahrzeug, dass eine Unterscheidung zwischen «Offline»- und «Online»-Kraftfahrzeugen erforderlich ist. Die Entscheidung des Gerichts betrifft den ersten in Deutschland bekannt gewordenen Rechtsstreit über die Zulässigkeit der Speicherung personenbezogener Daten im Kraftfahrzeug. Im Rahmen einer Streitigkeit zwischen Verkäufer und Käufer eines Geländewagens musste das Gericht entscheiden, inwieweit eine Datenspeicherung in den Systemen des Fahrzeuges zur Verweigerung der Abnahme berechtigt, und setzte sich in diesem Zusammenhang mit der zunehmenden Datenverarbeitung in Kraftfahrzeugen auseinander.
Auf Grundlage der EU-Datenschutzgrundverordnung, welche ab 25. Mai 2018 wirksam sein wird, beschäftigt sich Magnus Grünheidt mit selbstfahrenden Autos unter datenschutzrechtlicher Perspektive. Hierbei stellt er den aktuellen Entwicklungsstand dar, geht auf die anfallenden Daten bei Connected Cars ein und fragt sich, ob und wie der Einsatz selbstfahrender Autos datenschutzkonform gestaltet werden kann. Die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die es erlauben, technische Entwicklungen mit dem Datenschutz in Einklang zu bringen, werden aufgezeigt.
Neben Fragen zu Datenrechten und Datenschutz stellen sich im digitalisierten Verkehr jedoch auch neue Haftungsfragen:
Nadine Zurkinden untersucht die strafrechtliche Verantwortung für einen Crash beim Testbetrieb selbstfahrender Fahrzeuge. Handelt es sich hier um Unrecht oder strafrechtlich erlaubtes Risiko? Das Szenario knüpft an einen Unfall an, der sich nach Erteilung einer Ausnahmebewilligung zum Test von autonomen Fahrzeugen ereignet hat. Liegt hier ein Fall eines erlaubten Risikos vor, sodass niemand bestraft werden kann, selbst wenn sich das Risiko in einem Schaden manifestiert, weil eine Interessensabwägung auf drei Ebenen – Gesetzgeber, bewilligende Behörde und Strafrichter – dafür streitet, dass ein solches Risiko eingegangen werden darf?
Cordula Lötscher analysiert zivilrechtliche Probleme, die auftreten, wenn das Auto den Laster nicht sieht und stellt die Hypothese einer Verschiebung zivilrechtlicher Verantwortlichkeit aufgrund intelligenter Algorithmen in den Raum. Der Beitrag gibt einen Überblick über die zivilrechtliche Verantwortlichkeit für den Einsatz selbstfahrender Autos de lege lata und ferenda. Untersucht wird die Verantwortlichkeit des Halters, des Fahrers und des Herstellers sowie allfälliger neu hinzutretender Akteure. Dabei werden speziell die Besonderheiten von Machine Learning-basierten Systemen beleuchtet.
Die Beiträge werfen Schlaglichter auf noch ungelöste rechtliche Fragen in Zusammenhang mit der Digitalisierung des Verkehrs. Solche Fragestellungen sind Gegenstand eines Law & Robots-Forschungsmoduls an der Juristischen Fakultät der Universität Basel. Das Szenario eines zunehmend smarten Strassenverkehrs dient unter anderem als Anschauungsbeispiel für vier Dissertationsprojekte im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes «Big Data» des Schweizer Nationalfonds (SNF NFP75). Im Fokus stehen
- die Zuweisung von Datenrechten in der Wertschöpfungskette Big Data (am Beispiel des Intelligenten Verkehrs);
- die Möglichkeiten einer Regulierung der Übertragung von Datenrechten (insbesondere in Zusammenhang mit automatisiertem Fahren);
- die Verwertbarkeit von Daten, die Roboter im Privatbereich generieren, bei einer Strafverfolgung;
- das Strafantragsrecht als Form eines Datenrechts des Verletzten im Strafrecht.
Ziel des Forschungsclusters ist es, anhand des Beispiels des Intelligenten Verkehrs die Herausforderung von Big Data für das Recht und verschiedene Lösungsansätze für neue Rechtsregeln aufzuzeigen, damit sich nicht nur die unmittelbaren Akteure eines Intelligenten Verkehrs, sondern alle darauf einstellen können, wodurch sie profitieren und was sie riskieren könnten.
Ich danke der Weblaw AG für die Möglichkeit, Beiträge der Veranstaltung «Intelligenter Verkehr – Rechtsfragen im Kontext» sowie weitere zum Themenbereich passende Artikel in diesem Rahmen frei zugänglich zu stellen und somit die Diskussion und den Stand der Forschung voranzutreiben.
Basel, im November 2016
Prof. Dr. iur. Sabine Gless
Juristische Fakultät, Universität Basel